Mit Pattern und Partituren Organisation entwickeln
Gelsenkirchen, 7.1.2011 | Im vergangenen Jahr haben wir neben spannenden Konzerten und interessanten Menschen auch andere Dinge im Dunstkreis des Jazz entdeckt. Eine der interessantesten Entdeckungen war dabei sicherlich das Projekt MICC der Universität Essen/Duisburg.
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Unsere Arbeitswelt verändert sich. Besser, schneller, billiger. Betriebliche Organisationen unterliegen einem permanentem Wandel. Matrixorganisation, flache Hierarchien, Zunahme von Projektarbeit in allen Teilen der Unternehmen. In vielen Betrieben findet seit Jahren Organisationentwickelung statt, wird ausprobiert, wieder verworfen und erneut reorganisiert – ohne wirklich durchschlagende Ergebnisse. Doch mit einer schlichten Organisationsänderung allein ist es nicht getan. Sowohl neu installierte Organisationsformen, als auch der implizite Wunsch nach Beschleunigung zur Erreichung kreativer Lösungen und mehr Improvisation bei der Bewältigung plötzlich (aber immer wieder) auftretender betrieblicher Probleme erfordert mehr. Um schneller die gesteckten Ziele zu erreichen und bessere Ergebnisse zu erzielen bedarf es einer authentischen Partizipation der Beteiligten. Hierzu gehören nicht nur die ausgiebig thematisierten Softskills, wie z.B. Konflikt-, Team- oder Kommunikationsfähigkeit, sondern ein Basiswissen über betriebliche Zusammenhänge und -abläufe, also Kenntnisse über klassische, bewährte Muster. Aber selbst dort, wo Wert auf die Vermittlung von Softkills gelegt wird und die bewährten betrieblichen Muster weitgehend bekannt sind, gibt es oft nicht die gewünschten Ergebnisse, weil die Akteure nicht miteinander harmonieren und nach wie vor geeignete Werkzeuge fehlen, um eine authentische Partizipation zu installieren.
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Ein Jazzclub im Ruhrgebiet, Freitagabend 22:30. Die Opener-Formation hat vor einer halben Stunde ihr Programm beendet und nun stehen vier Musiker auf der Bühne, die sich erst an diesem Abend kennengelernt haben und nun zum ersten Mal miteinander musizieren. Und es funktioniert, hört sich an als würden die Vier seit längerem zusammen spielen und hätten viele Stunden in ihrem Proberaum verbracht. Der ungeübte Zuhörer kann sich dies nicht erklären und fragt sich, wie kann das gehen. Jazzmusiker haben gelernt, mit minimalen Absprachen gemeinsam zu Musizieren. Sie erkennen schnell klassische, ihnen bekannte Muster, geben sich Raum für Improvisation um letztendlich immer wieder zu den bewährten Mustern zurückzukehren.
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Diese Herangehensweise hat eine Gruppe von Wissenschaftlern der Universität Essen/Duisburg und den Vibraphonisten Christopher Dell inspiriert, dieses Handlungswissen für die Entwicklung von Organisationen nutzbar zu machen. Das Forschungsvorhaben MICC (music – innovation coporate culture) bearbeitet und erforscht die Schnittstelle zwischen Organisationen, Organisationskultur und Musik. Die Schnittmenge dieser zunächst unvereinbar erscheinenden, nicht zusammen zu bringenden Bereiche, bilden Muster bzw. Patterns. In der Musik und vor allem im Jazz sind patterns übliche Praxis. Jazz Musiker erlernen Patterns nicht nur. Sie nutzen diese erlernten Muster um neue Muster und Melodieelemente zu kreieren, wie unsere vier Jazzer in unserem Jazzclub. Grundlage hierfür ist die Fähigkeit, vorhandene Muster zu erfassen und iterativ zu bearbeiten. Diese Wahrnehmung und das Einüben erlaubt es den Musikern, Muster zu absorbieren und zu speichern. Erinnert man sich vor diesem Hintergrund an das letzte besuchte Jazzkonzert, wird schnell klar, dass diese Muster (patterns) nicht dazu da sind in Ordnung zu erstarren, sondern aus einer Ordnung neue Ordnung zu entwickeln.
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Auch in Organisationen stößt man schnell auf Ordnung, Handlungs- bzw. Prozessmuster wie z.B. typische Arbeitsabläufe und entdeckt typische Herangehensweisen an Probleme, also Lösungsmuster als Teil der Organisationskultur und der Handlungsweisen ihrer Organisationsmitglieder. Doch sind diese Ordnungen und Muster den Mitglieder der Organisation bewußt? Gibt es ein gemeinsames Verständnis hierüber, um letztendlich auf dieser Basis zusammen agieren zu können?
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Erfahrungen haben gezeigt, dass über das musikalische Denken implizites Wissen leichter und anders erreicht werden und auch ein leichterer Zugang zum Unterbewußten möglich ist. Mit dem Zeichnen von Partituren, deren Erscheinungsbildern mit Kompositionen neuer Musik vergleichbar sind, wird ein neues musikalisches Tool entwickelt (siehe Beispiele), um “Organisation musikalisch zu denken” (C. Dell). Diese “Organisationspartituren” können dabei sowohl als Instrument zur Datenerhebung, aber auch im Rahmen der Entwicklung von Organisationsprozessen genutzt werden. Diese Methode macht eine musikalisch-performative Idee des Organisierens bzw. von Organisationen zur Grundlage der Reflexion und Erkenntnis. Durch die Betrachtung einer spezifischen Fragestellung in Form einer Partitur werden neue Reflexionsräume eröffnet. Sowohl aus dem Bild der dargestellten Komposition selbst, als auch aus den begleitenden Erzählungen über Ideen, die beim Zeichnen der Partituren entstehen, scheinen dahinterliegende Themen, Thesen, Annahmen, Vorgehensweisen und Zusammenhänge deutlicher und vor allem mehrdimensionaler zu werden. Eine Präsentation gibt einen näheren Einblick in die Methode.
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In Modellprojekten hat diese Vorgehensweise zu überraschenden Ergebnissen und Perspektivwechseln der beteiligten Personen und Organisationen geführt. Voraussetzung ist die Überzeugung, dass jeder Mensch auf seine eigene Art und Weise komponieren kann. Durch die Aufgabe Organisation und betriebliche Prozesse in Form einer Partitur zu betrachten oder zu entwickeln entsteht bei den Akteuren automatisch die Notwendigkeit das Miteinander zu denken, Wissen über das Große und Ganze der Organisation zu haben, Abläufe, Verknüpfungen und Routinen zu begreifen und die Stärken und Schwächen der Beteiligten zu berücksichtigen, um letztendlich gemeinsam “spielen” zu können. Hierdurch fällt es viel leichter Unterschiede auszuhalten, Konflikte und Interdisziplinarität wert zu schätzen, Konsens anzustreben und Abgrenzungen konstruktiv zu betrachten und letztendlich schnell kreative Lösungen zu finden.
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Das MICC-Projekt geht noch bis Mitte des Jahres. Bis dahin soll noch eine “Maschine” entwickelt werden, mit der es möglich sein soll, die Organisation mit Hilfe von vorhandenen Samples auch musikalisch (akustisch) darzustellen und wahrnehmen zu können.
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Text und Fotos: Bernd Zimmermann
Veröffentlicht auf: http://ruhrjazz.net/news/2011/micc.html
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KOMMENTARE
12. Januar 2011, Max Haarich
Klingt sehr interessant! Vermutlich könnte man noch einen Schritt weiter gehen und dieses mustererkennende und mustervariierende Vorgehen nicht nur als typisch für das prozessieren von Musik, sondern sogar von Wahrnehmen, Denken und Sprache im allgemeinen unterstellen.
An dieser Stelle möchte ich auf die Arbeiten der Aachener Sprach- und Kommunikationswissenschaftler verweisen, die ebenfalls mit den Begriffen der Partitur und Skriptur arbeiten, allen voran die emerietierten Professoren Christian Stetter und Ludwig Jäger. Zentrale Idee ist auch dort die Performanz der Partitur als interaktive Aushandlungsbühne gemeinschaftlich geteilten Wissens und Sinns.